17.1.13

Weltkarte mir riesenhafter Osterinsel

Surrealer Weltentwurf mit einer riesenhaften Osterinsel

Im Juni 1929 erschien in der belgischen Kulturzeitschrift Variétés eine der surrealistischen Bewegung gewidmete Sondernummer. Unter den Beiträgen stach eine Weltkarte ins Auge, die mit „Die Welt zur Zeit der Surrealisten“ untertitelt war. Späteren Autoren zufolge stammte die Karte von Yves Tanguy, einem bretonischen Zeichner und Maler, der dem Surrealismus schon 1924 verbunden war.

Als Europa noch der  Nabel der Welt war
Seit 1569, als Geradus Mercator seine Karte gezeichnet hatte, war Europa der Nabel der Welt. Im Zentrum der Weltkarten lag dabei stets Europa. Die Fläche des „alten Kontinents“ wurde vergrößert dargestellt, ebenso der Nordatlantik und später die Vereinigten Staaten.
Hinter der geografischen Aufblähung Europas, damals noch Zentrum des Kolonialismus und Imperialismus, stand der Mythos vom europäischen Kontinent als Inbegriff der globalen Zivilisation. Es war diese Anmaßung, die die Surrealisten zur vollständigen Umkehrung der eurozentrischen Geografie veranlasste. Ihre Karte war eine Antwort darauf, besser: eine Illustration der Sichtweise, die der Dichter Paul Valéry 1919 in dem Aufsatz „Die Krise des europäischen Bewusstseins“ angeregt hatte. Valéry hatte gefragt, ob Europa zu dem wird, was es seiner Meinung nach in Wirklichkeit sei: „eine kleine Spitze des asiatischen Kontinents“.
Auf dieser surrealistischen Karte lag der Pazifische Ozean genau in der Mitte, während Europa, auf eine Winzigkeit reduziert, kaum am linken Rand der Karte zu entdecken war.
Die Größenverhältnisse der Länder und Kontinente sind einer radikalen Redimensionierung unterworfen. Die Vereinigten Staaten fehlen vollständig, England schrumpft zu einem kaum sichtbaren Punkt gegenüber dem dominierenden Irland zusammen.



Die surrealistische Weltkarte von 1929. Nach S. Klengel, "Amerika-Diskurse der Surrealisten", Metzler 1994

André Bretons Pariser Wohnung in der Rue Fontaine Nr. 19, keineswegs in einem „besseren“ Viertel gelegen, war ein Dschungel, in dem man nur auf schmalem Pfad zur zentralen Feuerstelle, Bretons Schreibtisch, gelangen konnte. Hier stand, umgeben von Kunstwerken indigener Völker, ein Uli, eine Holzskulptur aus dem damaligen Neuirland (heute Papua-Neuguinea). Sie verkörperte in ihrer Zweigeschlechtlichkeit, in ihrer Funktion als Teil des Ahnen- und Totenkults die Sehnsucht der Surrealisten nach einem weiteren Begriff von Wirklichkeit.
Zwar war keiner der Surrealisten Ende der 1920er Jahre selbst in die Südsee aufgebrochen, aber Breton, Max Ernst und ihre Freunde studierten sie. Ihr Wunsch war es, Unbewusstes abzubilden, die Erfahrung einer „poetischen Realität“ zu erlangen. Kinder und „Primitive!“ hatten sich ihrer Meinung nach die Fähigkeit zum „magischen Sehen“ bewahrt. Die Surrealisten kultivierten das Bild einer harmonischen Einheit von Mensch und Natur gerade auch in den ozeanischen Gesellschaften.
Nach Max Ernst besitzt der „primitive Papua den Schlüssel zu allen Geheimnissen der Natur und gelangt mühelos zur vollständigen Übereinstimmung mit ihr“.
Von den Riten der Osterinsel war Max Ernst, der sich schon früh mit dem Totemismus auseinandergesetzt hatte, besonders beeindruckt. Er war es auch, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Einziger der Surrealisten die Osterinsel besuchte und mit seinem Gemälde „Rosa Vogel“ sein Schutztotem verewigte. Die Riten der Osterinsel hatten es den Surrealisten so angetan, dass sie das Eiland auf der Weltkarte zur halben Größe Afrikas aufblähten. (gekürzt)
von Christian Semler, Le Monde diplomatique, Berlin vom 11.1.2013




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