Weltkarte mir riesenhafter Osterinsel
Surrealer Weltentwurf mit einer riesenhaften Osterinsel
Im Juni 1929
erschien in der belgischen Kulturzeitschrift Variétés eine der
surrealistischen Bewegung gewidmete Sondernummer. Unter den Beiträgen stach
eine Weltkarte ins Auge, die mit „Die Welt zur Zeit der Surrealisten“
untertitelt war. Späteren Autoren zufolge stammte die Karte von Yves Tanguy,
einem bretonischen Zeichner und Maler, der dem Surrealismus schon 1924 verbunden
war.
Als Europa
noch der Nabel der Welt war
Seit 1569, als
Geradus Mercator seine Karte gezeichnet hatte, war Europa der Nabel der Welt.
Im Zentrum der Weltkarten lag dabei stets Europa. Die Fläche des „alten
Kontinents“ wurde vergrößert dargestellt, ebenso der Nordatlantik und später
die Vereinigten Staaten.
Hinter der
geografischen Aufblähung Europas, damals noch Zentrum des Kolonialismus und
Imperialismus, stand der Mythos vom europäischen Kontinent als Inbegriff der
globalen Zivilisation. Es war diese Anmaßung, die die Surrealisten zur
vollständigen Umkehrung der eurozentrischen Geografie veranlasste. Ihre Karte
war eine Antwort darauf, besser: eine Illustration der Sichtweise, die der
Dichter Paul Valéry 1919 in dem Aufsatz „Die Krise des europäischen
Bewusstseins“ angeregt hatte. Valéry hatte gefragt, ob Europa zu dem wird, was
es seiner Meinung nach in Wirklichkeit sei: „eine kleine Spitze des asiatischen
Kontinents“.
Auf dieser
surrealistischen Karte lag der Pazifische Ozean genau in der Mitte, während
Europa, auf eine Winzigkeit reduziert, kaum am linken Rand der Karte zu
entdecken war.
Die
Größenverhältnisse der Länder und Kontinente sind einer radikalen Redimensionierung
unterworfen. Die Vereinigten Staaten fehlen vollständig, England schrumpft zu
einem kaum sichtbaren Punkt gegenüber dem dominierenden Irland zusammen.
Die surrealistische Weltkarte von
1929. Nach S. Klengel, "Amerika-Diskurse der Surrealisten", Metzler
1994
André Bretons
Pariser Wohnung in der Rue Fontaine Nr. 19, keineswegs in einem „besseren“
Viertel gelegen, war ein Dschungel, in dem man nur auf schmalem Pfad zur
zentralen Feuerstelle, Bretons Schreibtisch, gelangen konnte. Hier stand,
umgeben von Kunstwerken indigener Völker, ein Uli, eine Holzskulptur aus dem
damaligen Neuirland (heute Papua-Neuguinea). Sie verkörperte in ihrer
Zweigeschlechtlichkeit, in ihrer Funktion als Teil des Ahnen- und Totenkults
die Sehnsucht der Surrealisten nach einem weiteren Begriff von Wirklichkeit.
Zwar war
keiner der Surrealisten Ende der 1920er Jahre selbst in die Südsee
aufgebrochen, aber Breton, Max Ernst und ihre Freunde studierten sie. Ihr
Wunsch war es, Unbewusstes abzubilden, die Erfahrung einer „poetischen
Realität“ zu erlangen. Kinder und „Primitive!“ hatten sich ihrer Meinung nach
die Fähigkeit zum „magischen Sehen“ bewahrt. Die Surrealisten kultivierten das
Bild einer harmonischen Einheit von Mensch und Natur gerade auch in den
ozeanischen Gesellschaften.
Nach Max Ernst
besitzt der „primitive Papua den Schlüssel zu allen Geheimnissen der Natur und
gelangt mühelos zur vollständigen Übereinstimmung mit ihr“.
Von den Riten
der Osterinsel war Max Ernst, der sich schon früh mit dem Totemismus
auseinandergesetzt hatte, besonders beeindruckt. Er war es auch, der nach dem
Zweiten Weltkrieg als Einziger der Surrealisten die Osterinsel besuchte und mit
seinem Gemälde „Rosa Vogel“ sein Schutztotem verewigte. Die Riten der
Osterinsel hatten es den Surrealisten so angetan, dass sie das Eiland auf der
Weltkarte zur halben Größe Afrikas aufblähten. (gekürzt)
von Christian
Semler, Le Monde
diplomatique, Berlin vom 11.1.2013
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