Verräterische Wellen bis zur Küste der Osterinsel
Ivan Wenzel hat auf der Insel das Weltgeschehen im Blick
Dass die Osterinsel auch nur entfernt irgendetwas mit
Nordkorea zu tun haben könnte, liegt wahrlich nicht auf der Hand. Fast 14.000
Kilometer Pazifischer Ozean trennen die beiden Orte. Während im Norden der
koreanischen Halbinsel der Jungdiktator Kim Jung-un einen von der Welt
abgeschotteten Staat mit eiserner Faust zu regieren lernt, läuft das Leben auf
der zu Chile gehörenden Isla de Pascua eher weltoffen im polynesischen
Laissez-faire ab. Dennoch nimmt Ivan Wenzel, ein vom Festland stammender
Chilene, der seit 28 Jahren auf der Osterinsel lebt, begierig jede Nachricht
aus Nordkorea auf. Zunächst war es der Start des ersten Satelliten an der
Spitze einer nordkoreanischen Langstreckenrakete Mitte Dezember, der Wenzel
beunruhigte. Und nun ist es der Atomversuch des kommunistischen Landes.
Der grauhaarige, stets zu einem Lächeln aufgelegte Wenzel,
übt zweifellos den außergewöhnlichsten Beruf aller fast 4000 Bewohner der
Osterinsel aus. Während andere Männer seines gesetzten Alters Touristen in die
Geheimnisse der berühmten Statuen der Insel, der Moais, einweihen oder im
Gastgewerbe tätig sind, fährt Wenzel an jedem Werktag zu einem kleinen Haus,
das völlig abgelegen fast in der Mitte der dreiecksförmigen Insel liegt. Um das
Haus herum grasen einige jener Wildpferde, von denen es Hunderte auf der
Osterinsel gibt. Im Garten liegen zwei große Moais, die nur wenige Touristen
auf der Insel je zu sehen bekommen. Die tonnenschweren Statuen aus
Vulkangestein liegen hier seit Jahrhunderten mit dem Gesicht nach unten.
Wahrscheinlich war den ursprünglichen Einwohnern der Insel der Transport vom
Steinbruch am Vulkankrater Ranu Raraku zu einem heute unbekannten, Kilometer
weit entfernten Aufstellungsort zu mühsam, und sie ließen die Statuen einfach
am Wegesrand liegen.
Wenn Wenzel an seinem Arbeitsplatz erscheint, interessieren
ihn jedoch weder die Pferde noch die Moais. Er betreut vielmehr Dutzende von
Messgeräten, deren Daten in dem einsamen Haus zusammenlaufen und dort von
Computern erfasst werden. Per Satellit werden diese Messwerte in Echtzeit in
ein Hochhaus in den Stadtteil Donau-City nach Wien gefunkt. Über diesen Umweg
durch die österreichische Hauptstadt erklärt sich schließlich auch der
Zusammenhang zwischen der Osterinsel und Nordkorea. In Wien hat die
„Organisation des Vertrags über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen“
ihren Sitz, eine nach ihrem englischen Namen kurz CTBTO genannte Behörde.
Nordkorea ist das einzige Land, das in den vergangenen fünfzehn Jahren
Atomwaffenversuche unternahm, zunächst 2006, dann drei Jahre später und jetzt
in der Nacht zum Dienstag .
Tieffrequente Schallwellen vor Rapa Nui
Für die CTBTO spielt die Osterinsel eine ganz wichtige
Rolle. Schließlich gilt das Eiland als die einsamste Insel überhaupt, denn sie
ist mehr als 3500 Kilometer vom chilenischen Festland entfernt und zum nächsten
bewohnten Ort, der Pitcairn-Insel, sind es immerhin noch fast 2100 Kilometer.
Wegen dieser exponierten Lage füllen die Messgeräte auf Rapa Nui, wie die Insel
in der Sprache der Polynesier heißt, eine wichtige Lücke im weltumspannenden
Überwachungsnetz der Wiener Organisation. Es besteht aus mehr als 300 Sensoren,
die auf allen Kontinenten, einschließlich der Antarktis verteilt sind.
Wegen der Lage der Osterinsel betreut Wenzel eine Reihe
unterschiedlicher Messgeräte. Ein Satz von Seismometern registriert neben
Erdbeben auch jene seismischen Wellen, die von unterirdischen
Kernwaffenversuchen ausgehen. Mit insgesamt acht Infraschallsensoren erfasst
die Messstation außerdem jeden lauten, für den Menschen aber unhörbaren tieffrequenten
Ton in der Atmosphäre. Dazu gehören auch Schallwellen, die von schweren
Explosionen ausgehen. Und schließlich saugt ein zimmergroßer Apparat ständig
Außenluft an und stellt bei dessen Analyse fest, wie viele radioaktive Isotope
gerade im Luftstrom enthalten sind.
Bestätigung aus der abgelegenen Hütte
Aus den Messdaten der auf der ganzen Welt verteilten
Seismometer konnten die CTBTO-Wissenschaftler am Dienstag schon nach wenigen
Stunden die genaue Lage und die Stärke des nordkoreanischen Kernwaffenversuches
ermitteln. Er fand im etwa 380 Kilometer östlich der Hauptstadt Pjöngjang
gelegenen Atomforschungszentrum Punggye Ri statt und lag nur wenige Kilometer
vom Herd der beiden vorhergehenden Versuche entfernt. Obwohl nahezu alle
Messwerte darauf hindeuten, dass es sich bei dem seismischen Ereignis
tatsächlich um einen Atomversuch handelt, war Tibor Toth, der Exekutivsekretär
der CTBTO, in einer ersten Stellungnahme vorsichtig. Er sprach lediglich von
einem „seismischen Ereignis mit der Charakteristik einer Explosion“. Die
endgültige wissenschaftliche Bestätigung, dass es sich in der Tat um einen
Kernwaffentest gehandelt hat, werden erst Wenzels Luftanalysator und andere
Geräte dieser Art geben. Denn selbst bei der unterirdischen Detonation von Atom-
und Wasserstoffbomben gelangen jeweils typische Radionuklide in die Luft, die
vom Wind in wenigen Tagen rund um den Globus getragen werden. Erst wenn diese
radioaktiven Stoffe in den Messungen zu sehen sind, kann man mit Gewissheit von
einer Kernexplosion sprechen.
Das Interesse für die Wissenschaft steckt in Wenzels
Familie. Sowohl sein Groß- als auch sein Schwiegervater arbeiteten Ende der
fünfziger Jahre mit dem norwegischen Entdecker Thor Heyerdahl zusammen.
Stürzten Tsunamis die Statuen am Ufer um?
Gemeinhin wird angenommen, dass sie bei Stammesfehden
zwischen den verschiedenen Gruppen der polynesischen Einwohner Rapa Nuis
umgeworfen wurden. Wenzel hat aber eine andere Theorie: Weil die meisten
Statuen in unmittelbarer Nähe der Küste aufgestellt sind, könnten Tsunamis sie
von den Sockeln gehoben haben. Das geschah zuletzt kurz nachdem Heyerdahl die
Insel verlassen hatte. Beim schwersten je mit Instrumenten gemessenen Erdbeben
auf der Welt, dem Chile-Beben vom Mai 1960 mit einer Magnitude von 9,5, erreichte
ein mehrere Meter hoher Tsunami auch die Ostküste der Osterinsel. Die Kraft der
Flutwelle war so stark, dass sie die wohl eindrucksvollste Ansammlung von Moai
in der Bucht von Tongariki kräftig herumwirbelte. Einige der tonnenschweren
Statuen wurden mehr als hundert Meter weit ins Landesinnere gespült. Erst Jahre
später konnten diese Statuen mit japanischer Entwicklungshilfe wieder
aufgestellt werden. Heute sind die 15, in Reih und Glied landeinwärts
blickenden Moai Ziel einer jeden Touristenexkursion.
Obwohl die Messgeräte auf der Insel jedes schwere Erdbeben
im Feuerring um den Pazifik empfangen, gehört die Tsunamiwarnung nicht zu
Wenzels Aufgaben. Wenn eine solche Welle wieder einmal den Pazifik durchquert,
werden die Bewohner Rapa Nuis vom Festland aus gewarnt. Beim letzten schweren
Beben in Chile am 27. Februar 2010 kam die Warnung früh genug, dass alle
Einwohner des Inselhauptortes Hanga Roa sich in Ruhe in höhere Lagen in
Sicherheit bringen konnten, doch die Inselbevölkerung war damals nicht bedroht.
mit freundlichem Dank von Horst Rademacher (Hanga Roa) in Frankfurter Allgemeine,
13.2.2013